Ein Erfahrungsbericht der pferdegestützten Familienintensivtherapie verfasst von Frau Heime* (Mutter der Familie):
Wir sind alle so ziemlich Stadtmenschen bzw. Stadtkinder und hatten mit den Pferden und Reiten nicht wirklich viel zu tun gehabt. Rudolf hat zwar seine Kindheit in einer ländlichen Gegend verbracht, hatte aber mit den Pferden leider keine so schöne Erfahrungen gemacht. Einmal hat er einen kräftigen Tritt von einem auskeilenden Nachbarspferd auf die Brust bekommen und hat so ganz unfreiwillig zu fliegen gelernt. Ein anderes Mal, bei einem organisierten Reitausflug, sind die Pferde durchgegangen und er ist hart auf dem Boden gelandet und dabei mit dem Kopf nur ganz knapp einen großen Findling verfehlt. Seit dem sind ihm die Pferde suspekt und er hatte eigentlich auch nicht vorgehabt, sie näher kennenzulernen. Greta ist als Kleinkind zwar öfters auf Lande bei Großeltern gewesen und hatte da viele schöne Wochen verbracht, aber im Laufe der Zeit sind die meisten Erinnerungen verblasst. Ihre Kenntnisse über die Pferde endeten damit, den Vorderteil des Tieres vom Hinterteil zu unterscheiden. Das war's dann. Die Aussicht, die Familientherapie zu machen, hat sie neugierig, aber auch etwas unsicher gemacht.
Leon tendiert aufgrund seiner Behinderung sehr zum Rückzug. Er beschäftigt sich die meiste Zeit mit einigen wenigen Sachen, die er gerade spannend findet, und zeigt wenig Interesse über das Umfeld. Dabei bekommt Leon aber einiges mit, womit man nicht gerechnet hätte. Er hat auch Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und wirkt oft unmotiviert und antriebslos. Wenn es sich jedoch um Sachen oder Unternehmungen handelt, die ihn interessieren und die er gern mag, kann er auch ganz anders. Er spricht nur wenig sponten, ohne Grammatik, meist in 1-3 Wortsätzen. Bei komplizierteren Sachverhalten ist sein Sprachverständnis eingeschränkt. Leon hat jedoch die Grundlagen vom Lesen und Schreiben gelernt, worauf wir alle mächtig stolz sind. Er hat schwachen Muskeltonus, Gleichgewichtsstörung, ist motorisch etwas ungeschickt und leidet unter einer Schlafstörung. Leon besucht eine Schule für geistige Entwicklung und bekommt zur Zeit Logopädie, Krankengymnastik und autismusspezifische Therapie. Er ist schon ein paar Mal bei Veranstaltungen auf einem Pony geritten und fand das interessant.
Elsa, die jüngste in der Familie, ist im Kindergarten zurückhaltend und hält sich abseits. Zu Hause ist sie aber aufgeschlossen und lebhaft - wie iher Eltern finden, manchmal schon etwas zuviel. Da ist sie ein kleiner Feger und zu allen Schandtaten bereit. Elsa liebt alles, was vier Beine und einen Schwanz hat - je größer das Tier, desto besser. Am liebsten würde sie zu Hause ein Nilpferd halten. Leider haben die Eltern in dieser Frage aus einem unerklärlichen Grund nicht mitgemacht, außerdem passt so ein Viech weder in den Gartenteich noch in die Garage. Im Kinderzimmer wäre noch eine Ecke frei, doch wie kriegt man so ein Tier die Treppe hoch? Dabei haben die Kinder für das Nilpferd schon einen Namen ausgedacht. Elsa war sehr, sehr begeistert von der Idee, mehrere Tage zu reiten und konnte es kaum abwarten.
Das waren also wir und jetzt sahen wir den kommenden 5 Tagen Reittherapie entgegen - einige voller Elan, Vorfreude und glühend vor Begeisterung, andere neugierig oder wiederum angespannt und unsicher. Was wird wohl kommen? Es war sehr gut, dass wir die Möglichkeit erhielten, einige Wochen vor dem eigentlichen Beginn zusammen mit den Kindern das Zentrum für Therapeutisches- Amistad - zu besuchen und alles noch Mal ansehen. Das war besonders wichtig für Leon - so konnte er sich auf die Therapie einstellen, die Leute kennenlernen, die Umgebung erkunden. Dadurch fühlte er sich sicherer und wusste, was auf ihn zukommt. Elsa wollte am liebsten gleich loslegen - da musste sie etwas gebremst werden.
Ich fand nur Schade, dass wir keine Vorkenntnisse hatten, was die Pferde, das Reiten, die Körpersprache der Tiere betrifft. Dadurch hat man sich unsicher gefühlt (das galt aber nur für die Eltern - die Kinder haben sich da keine Gedanken gemacht). Als Erwachsene waren wir in dieser Situation unseren Kindern ähnlich - wir hatten Null Ahnung und mussten alles erst lernen. Das war schon irgendwie ungewöhnlich, denn sonst sind wir diejenigen, die den Kindern Sachen beibringen bzw. sie auch korrigieren können, wenn was falsch ist. Jetzt, bei der Reittherapie, waren wir alle, die ganze Familie, auf gleicher Ebene (nur mit dem Unterschied, dass Kinder alles ganz natürlich und unvoreingenommen sahen und keine Bedenken hatten, etwas falsch zu machen). Im Nachhinein war es aber vielleicht doch nicht so schlecht, dass wir unerfahren waren - sonst wäre es für uns nicht so besonders und einzigartig gewesen.
Danach folgten 5 sehr schöne Tage. Das Wetter hat auch mitgespielt und wurde mit jedem Tag immer besser. Es war wie eine ganz andere Welt - weit weg vom Alltag, weg vom täglichen Stress. Keine Schule, kein Kindergarten, keine Arbeit, kein Kochen und Abwasch - das war wie ein Miniurlaub.
Leon hat sehr schnell eine positive Beziehung zum Therapeutenteam aufgebaut. Er hat bei allem gern mitgemacht (manchmal brauchte er zwar eine extra Aufforderung, wenn er mal abgelenkt war). Leon fand die Pferde und das Reiten spannend und ist immer mit Freude zu Amistad gefahren. Man brauchte ihm nicht das zwei Mal zu sagen, er hat sich gleich fertig gemacht (bei anderen Anlässen wider um, z. B. zur Schule zu gehen, klappt das nicht so gut und Mama ist manchmal am Verzweifeln). Lenon hat alles gemacht - "sein" Pony Santos von der Weide holen, striegeln und Hufe auskratzen, das erforderliche Zubehör holen, Reiten, dem Pferd anschließend was leckeres zum Naschen geben.
Elsa war hell begeistert und hat die Tage richtig genossen. Nach dem ersten Tag wollte sie am liebsten gleich den Hund Tammo, die Katze und "ihr" Pony Rambo mit nach Hause nehmen und war traurig, als das nicht klappte. Am nächsten Morgen sagte sie zum Papa: "Du gehst heute nicht arbeiten, Du gehst reiten". Sie sagt uns schon, wo es lang geht. Leon spricht zwar nur wenig spontan, aber auch er hat auf seine Art uns mitgeteilt, was er wünscht - auf die Frage, ob er zum Reiten will, folgte immer promt ein ausdrückliches "ja". Nach dem Reiten waren die Kinder zu Hause fix und fertig. Elsa hat sich gleich auf dem Flur hingelegt und gesagt, dass sie schlafen will. Der Papa musste sie ins Bett bringen. Sie hat auch jeden Tag nach der Therapie eine längere Zeit geschlafen, bevor sie wieder zu gebrauchen war. Das Reiten hat sie ganz schön müde gemacht. Auch Leon ist abends früher und schneller eingeschlafen und hat auch ruhigeren Schlaf gehabt (sonst dauert es immer länger, bis er abends zur Ruhe kommt und einschläft). Er was auch insgesamt entspannter als sonst und hatte eine super Laune. Es hat ihm sichtlich gut getan. Es ist ein schönes Gefühl, ein Pferd zu streicheln, seine Mähne zu kämmen, seine Wärme zu fühlen, es einfach zu spüren. Das tut richtig gut. Die Pferde haben kuschelweiche Lippen und größe, schöne Augen. Die Mama hat sich auch getraut, auf ein Pferd zu steigen! Beim Hufe auskratzen war Mama doch unsicher und hatte Sorgen, was falsch zu machen. Sogar der Papa hat sich getraut, die gutmutige Bille näher kennenzulernen und hat dafür einen Lob geerntet. Das war dann doch nicht so schlimm und Mama war stolz auf ihn.
Besonders schön war der Ausritt mit dem Picknick und dem Besuch vom Spielplatz mitten im Wald - es was genau das richtige für die Kinder. Beide Kinder fanden auch spannend, auch Mal zur Abwechslung auf einem anderen Pferd zu reiten, insbesondere auf einem größeren - dem Kayol. Leon fand das weiße Pferd schon immer interessant. Elsa würde am allerliebsten auf allen Pferden der Reihe nach reiten, und das noch möglichst viel und lange. Sie fand es auch super, zusammen mit der Mama auf der Finja zu reiten.
Beide Kinder haben liebend gern für die Pferde was zum Naschen besorgt. Man brauchte nicht zwei Mal zu sagen - beide sind gern zum Geschäft mitgegangen und Leon hat selbst das Brot ausgewählt und die Karotten eingepackt. Zu Hause haben wir alle zusammen das Brot im Ofen getrocknet. Leon hat dabei die Brotscheiben abgezählt, damit alles seine Richtigkeit hat. Es war spannend, wie die Pferde die Leckereien verputzen, insbesondere wenn dabei auch saftiges Obst war und daraus eine matschige Angelegenheit wurde.
Bei Mama wurden die Erinnerungen aus ihren Kindertagen auf dem Land bei Großeltern wieder wach. Das war eine unbeschwerte Zeit, wo die Welt noch in Ornung war und man keine Sorgen um die Zukunft (weder die eigene noch um die eines behinderten Kindes) hatte. Es war wie früher - der unverwechselbare Duft vom frisch gemähten Heu, das saftige Grün von Wiesen und die bunten Wiesenblumen, die umherschwirrenden Schwalben, der Geruch und die Wärme von Tieren. Das waren schöne Erinnerungen. Jetzt werden auch Leon und Elsa ähnliche schöne Erinnerungen für ihre spätere Tage mitnehmen und sich später, als Erwachsene, an diese besondere Zeit erinnern können.
Jeder von uns hat eine besondere Beziehung zu "seinem" Pferd aufgebaut. Das ging ganz schnell. Jedes Pferd ist besonders, fühlt sich anders an und ist auf eigene Art schön. Mamas Lieblingspferd ist Finja. Auch Finja ist nicht "perfekt" und braucht wegen ihres kranken Fußes Rücksicht - es gibt eine Parallele zu Leon, der eine Behinderung hat, aber deshalb nicht weniger liebenswert ist und muss so akzeptiert werden, wie er ist. Wir fanden sehr gut, dass es bei der Familientherapie an die ganze Familie gedacht wurde. In unserem Alltag ist es nun mal so, dass Leon im Vordergrund steht und auf ihn besonders eingegangen wird. Seine kleine Schwester muss dabei öfters zurückstecken. Während dieser 5 Tage waren jedoch alle an der Reihe, Elsa war genauso wichtig wie ihr Bruder und hat das sichtlich genossen. Leon hat sich während der Therapie auch einer für ihn großen Herausforderung gestellt. Es hat nämlich Angst vor den Hunden, besonders wenn sie sich bewegen. So ist er auch vom Tammo anfangs weggelaufen. Nach einigen Tagen hat er aber die Scheu überwunden und hat sogar, unter Anleitung der Therapeutinnen, sich gewagt, den liegenden Hund zu streicheln. Er war auch selbst stolz darauf. Von anderen Hunden hat er aber noch immer Angst.
Nach dem letzten Tag der Therapie hat Leon zu Hause uns überrascht. Zu Beginn der Woche erzählen die Kinder seiner Klasse vom Wochenende. Da Leon kaum spricht, schreiben wir für ihn immer ein Wochenendbericht, das er in der Schule abliest. Er hatte noch nie Interesse dafür gezeigt, was wir da reinschreiben. Dieses Mal war das anders. Er hat der Mama beim Schreiben über die Schulter geschaut und Mama mußte jeden Satz laut vorlesen. Anschließend hat er noch seine Ergänzungen dazugetragen - Leon hat in Stichworten genannt, was Mama noch im Bericht schreiben soll. Das war für ihn also wichtig und er wollte das den anderen Kindern aus seiner Klasse mitteilen. So hat Leon noch die Namen von Ponys - Santos und Rambo - und die von Therapeutinnen - Ute, Anja, Karola und Conny - genannt. Danach nannte er 'Bürste, Hufe und Pferde füttern'. Außerdem sollten auch die 'Bananen' erwähnt werden und 'lecker' (er selbst mag zwar keine Bananen, aber die Pferde finden die Bananen lecker). Dann folgte noch 'Hund streicheln'. Dann folgten die Gerichte, die Leon selbst gegessen hat: Würstchen, Ketchup und Pommes. Er hat wirklich an fast alles gedacht. Wir, Eltern, waren verblüfft. Super, Leon, weiter so! Auch jetzt, mehrere Wochen nach der Therapie, erwähnt Leon öfters die Namen von den Therapeutinnen, den Hund und den Pferden. Er nimmt auch gern Mal ein Blatt Papier und Stift und schreibt diese Namen auf, wenn auch grammatisch nicht einwandfrei. Noch gerade hat er Ute, Reiten, Reithof und Tammo streicheln erwähnt. Er bringt der Mama öfters ein Haargummi und möchte, dass sie sich einen Pferdeschwanz macht.
Am Anfang dachte ich, dass diese Familientherapie in erster Reihe mehr etwas für die Kinder ist, insbesondere für Leon. Es ist nun so, dass die Kinder für uns die erste Priorität haben. Wir hatten erwartet, dass sie viel Spaß haben werden. Was uns selbst, die Eltern, betraf, war für uns weniger wichtig. Aber dann wurden auch wir, die Großen, gefordert und mussten uns manchen Herausforderungen stellen, uns selbst überwinden, was Neues wagen, uns wieder wie in unserer Kindheit und wie Kinder fühlen. Das war auch gut so. Es war wirklich eine Therapie für die ganze Familie, wir haben alle viel Spaß gehabt und auch was über uns selbst gelernt. Unsere Erwartungen wurden nicht nur erfüllt, sondern auch übertroffen. Die Zeit war wie ein schöner Traum und viel zu schnell zu Ende, dafür hat sie auch viel bewirkt und uns viele schöne Erinnerungen beschert.
Wir sind sehr dankbar dem Super-Therapeutinnen-Team des Zentrum für Therapeutisches Reiten Amistad und dem Förderverein des Zentrums für Therapeutisches Reiten Niederrhein e.V., dass Sie uns das ermöglicht haben.“
Leon, Elsa, Rudolf und Greta
* die Namen der Familienmitglieder wurden geändert.